Eine Pionierin der Gregorianischen Semiologie ist heimgegangen
Am späten Nachmittag des 31. August 2020 ist Marie-Claire Billecocq im Alter von 87 Jahren im Kloster La Chapelle-Viel in der Normandie zu ihrem Schöpfer heimgekehrt. Mit ihr ist eine Frau, die in den 70er- und 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts prägend für die erste Etappe und weitere Entwicklung der Gregorianischen Semiologie war, von uns gegangen. Sie war Schülerin von Dom Eugène Cardine OSB, dem Begründer der Gregorianischen Semiologie, und hat unter seiner Leitung unter anderem einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der französischen Handschrift Laon 239 geleistet, was nicht zuletzt auch dazu beitrug, dass heute in der Festlegung der Hierarchie der adiastematischen Handschriften Laon 239 ganz oben, auf der gleichen Stufe wie die ältesten Handschriften von St. Gallen und Einsiedeln 121, rangiert. Vor allem durch ihre Dissertation „Lettres ajoutées à la notation neumatique du Codex 239 de Laon“, mit der sie 1975 am Pontificio Istituto di Musica Sacra in Rom promoviert und die 1978 in Études grégoriennes XVII veröffentlicht wurde, hat sie einige bis dato in ihrer Bedeutung noch wenig bekannte Zusatzbuchstaben dieser Handschrift neu untersucht und teilweise neu gedeutet. Vor diesem Hintergrund ihres profunden Fachwissens über die Handschrift Laon 239 erschien sie geradezu prädestiniert, gegen Ende der 70er-Jahre bei dem Projekt, das nachkonziliare Graduale Romanum von 1974 mit Neumen des Cantatoriums von St. Gallen bzw. von Einsiedeln 121 und Laon 239 auszustatten, mit der Abschrift der Neumen von Laon 239 betraut zu werden. So entstand das Graduale Triplex von 1979 mit Neumen der St. Galler Schreibfamilie und von Laon 239, übertragen von Rupert Fischer bzw. Marie-Claire Billecocq. Ohne Zweifel stellt die Veröffentlichung des Graduale Triplex eine epochale Zäsur dar, die den weiteren Fortgang der Gregorianischen Semiologie als Wissenschaft und nicht zuletzt die weitere Entwicklung einer semiologisch orientierten Interpretation der gregorianischen Gesänge entscheidend beeinflusste.
Auch an der Gründung der Internationalen Gesellschaft für Studien des Gregorianischen Chorals (AISCGre) im Jahr 1975 war Marie-Claire Billecocq als eines der Gründungsmitglieder und als Mitglied im Vorstand maßgeblich beteiligt. Ihr viel beachtetes Auftreten bei den ersten Kongressen und internationalen Kursen der AISCGre zeugt von der Wertschätzung, die ihr von allen Seiten, weit über die Grenzen Frankreichs hinaus, entgegengebracht wurde.
Marie-Claire Billecoq lernte ich bereits Ende der 60er-/Anfang der 70er-Jahre während meines Studiums am Pontificio Istituto di Musica Sacra in Rom kennen, und sie ist mir seither auf diversen Treffen, vor allem in Vorbereitung internationaler Kongresse der AISCGre als kompetente Fachfrau und liebenswürdige, allzeit bescheidene und doch sehr engagierte und lebendige, dem Humor nicht abgeneigte Kollegin in Erinnerung geblieben. Möge ihr nun die Vollendung ihres irdischen Lebensweges und ewige Freude in der Gemeinschaft mit Gott und allen Heiligen zuteil werden.
Prof. Dr. Johannes Berchmans Göschl
(Ehrenpräsident der AISCGre)